Non-RGP / Short Stories




Non-RGP / Short Stories

Beitragvon Livingston » So 1. Nov 2020, 17:45

Im Moment klappt's nicht so mit RPG-Schreiben, aber wenn ihr möchtet, kann ich noch was anderes zur Abwechslung in die Runde hauen. Ich habe noch ein paar Kurzgeschichten auf Halde liegen, und vielleicht findet ja die eine oder andere Gefallen.
Los geht's mit meiner allerersten, die ich 2003 veröffentlicht habe. Einige Begriffe sind nicht mehr ganz so geläufig, wie z.B. BGS/Bundesgrenzschutz -> heute: Bundespolizei.
Oder Hartmut Medorn als ehemaliger Chef der DB. Nazi-Opas sind auch kein Alltags-Phänomen mehr und dass damals in Gorleben ganz schwer was mit Atomtransporten abging, muss man sich auch wieder ins Gedächtnis holen. Aber ich glaube, die Story ist trotzdem noch immer verständlich. Hier also die historisch unveränderte Fassung aus dem Jahr 2003 - übrigens mein erstes Jahr in SN :)

Staatliche Willkür

Erinnern Sie sich noch an den Sommer des Jahres 2003? Brütende Hitze legte sich über Stadt und Land. Die Straßen waren wie leergefegt, hin und wieder wehte ein schwächlicher Lufthauch verdorrtes Laub über den staubigen Asphalt, wo es sich schon bald zum endgültigen Zerfall niederlegte.
Alle litten! Kleine Kinder und Hunde suchten vergebens nach Wasserpfützen, um sich darin zu sulen, für Teenager war der Frühling schon lange vorbei, Karrieristen stöhnten über Krawattenzwang und Atemnot, alte Naziopas spürten deutlich ihre Kriegsverletzungen.
Am meisten aber litt der "Deutsche Bahn"-Chef Hartmut Mehdorn, der sich und der Welt die Ausfälle von Nah- und Fernverkehrszügen nur mit “Materialermüdung” erklären konnte. Ganze Gleisstränge zerflossen in der sengenden Hitze und verloren sich in den Weiten entlegener Provinzen, etwa des Wendlandes, wo es nur mit Mühe und Not gelang, den eminent wichtigen Güterverkehr rund um Gorleben aufrechtzuerhalten.
Wer in diesem Sommer dazu verurteilt war, ohne Auto zu reisen, war restlos aufgeschmissen. Das, was sich auf den Bahnhöfen abspielte, war gänzlich grauenerregend. Na ja, eigentlicht war da gar nichts. Kein Zug fuhr die Bahnsteige an, kein Lüftchen wehte.
Was blieb den Kunden gepflegter Gastlichkeit anderes übrig als zu rauchen, eine Beschäftigung, welche - allen Unkenrufen zum Trotz - recht gut geeignet ist, die Wartezeit totzuschlagen. Pech hatte, wer dieser angenehmen Beschäftigung an einem sogenannten “rauchfreien Bahnhof” nachgehen wollte. Sicher, auch dort gab es legale Möglichkeiten, dieser Passion zu frönen, nämlich in den eigens errichteten “Raucherzonen”. Aber wer begibt sich schon freiwillig ins Ghetto, wo man dichtgedrängt wie in einem Viehstall dem Hohn und dem Spott intoleranter und nichtrauchender Zeitgenossen ausgesetzt ist?
Und überhaupt: Wenn sich tausende geknechtete Seelen aus Büros, Schulen, von Baustellen oder aus Fabriken schleppen, stundenlang dem Diktat des militanten Nichtrauchertums ausgesetzt, so werden sich diese in Bewegung setzen, um ihre Freiheit zu genießen, sich einem breiten Strome gleich vereinen, und gen heimwärtsbringenden Bahnhof ziehen, Stufe um Stufe den Bahnsteig erklimmend, wo sie – nun endlich bar aller Qualen und Schmähungen – die lang vergönnte und möglicherweisee sogar erste Zigarette des Tages aus der Packung ziehen, sie noch einmal liebevoll betrachten, anzünden, um endlich – endlich – den ersten Zug genußvoll zu inhalieren. Ahhh!
So war es auch an jenem denkwürdigen Tag, welcher so friedlich begann.

“He, Sie da, Rauchen verboten!”
Ich wollte es erst gar nicht wahr haben: Diensteifrig bellte mich ein uniformierter Wachdienstler an, Krawatte korrekt gebunden, die Hand an die Diensttaschenlampe “Hellfire Armageddon” gelegt. Mich beeindruckte weniger seine staatstragende fast schon selbstsichere Haltung, seine alberne Uniform oder seine Gestapo-starren Augen als vielmehr die Tatsache, daß er gar nicht schwitzte. “Kaltblüter”, dachte ich, “oder ein gescheiterter Unteroffizier.” Vorsicht war also angeraten, man hört ja so einiges über kaputte Bundis.
Gleich neben mir solidarisierte sich spontan ein Mann, indem er eine Zichte zündete: “Ik glob et ja nich! Die ham wa uns vadient, DET kannste ma globen, wa!”
Der Wachkötter durchforstete kurz seine Hirndatenbank nach passenden Dienstvorschriften und verkündete seinen Beschluß: “Ich hole Verstärkung.”
Die kam auch spontan aus der legalen Raucherecke. Eine Frau wand sich aus der schwitzenden Menge heraus und rief zu uns herüber: “Ham wa jelacht”, zog einmal kräftig und warf dem gescheiterten Unterbrülloffiziers-Anwärter die heruntergerauchte Kippe vor die Füße.
In diesem Moment nahm ich die erste kleine Schweißperle auf dessen Stirn war. Er war hoffnungslos überfordert. Ein undefinierter Fall war eingetreten, in seinem Ausbildungsseminar war solch renitentes Verhalten offenkundig nicht erörtert worden. Da half nur eines! Funkgerät raus: “Zentrale? Hier 06. Widerständige Ansammlung von 'Dampf' auf Bahnsteig 2, südlicher Aufgang. Sofortige Hilfe erbeten.”
Inwischen brach eine Gruppe junger Punks mutig aus dem Raucherbereich aus. Sie brutzelten fröhlich ihr Rauchwerk. Natürlich achteten sie sorgsam darauf, die aufmüpfige Frau zwischen sich und dem Uniformierten stehen zu haben. Ja, ja, die Jugend heutzutage!
“Zentrale? Dringend Verstärkung benötigt. Ziehen Sie den Bundesgrenzschutz hinzu! Mit erheblichem Widerstand ist zu rechnen.”

Um es kurz zu machen: Die meisten Raucher bekamen nichts von der Unterstützungsanforderung mit und verteilten sich freimütig über den gesamten Bahnsteig. Als zwei Minuten später eine BGS-Hundertschaft auftauchte, wurden die meisten auf frischer Tat ertappt, und wir alle fanden uns 20 Minuten später in den Arrestzellen wieder.
Nach drei Stunden wurde ich einem Protokolldroiden vorgeführt, der von mir lediglich Name und Wohnort erhielt. Als er merkte, daß ich nicht aussagewillig war, machte er mich darauf aufmerksam, daß ich wahrscheinlich der “Rädelsführerschaft” bezichtigt würde, ich hier noch einiges wettmachen könne, wenn ich die Namen meiner Komplizen nenne, usw., das übliche Programm eben.
Dann schickte er mich zur erkennungsdienstlichen Behandlung. Der Beamte, der mich in einen Warteraum führte, nahm dort verstohlen seine Mütze ab und kramte eine Packung Zigaretten heraus. Als er meinen verwunderten Blick bemerkte, bot er mir auch eine Fluppe an, natürlich nicht, ohne sich zu rechtfertigen: “Ick weß, det dürf'n wa nich in'nen Diensträumen, aba bei so 'nem Wetta, da scheiß ick druff.”
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Re: Non-RGP / Short Stories

Beitragvon Livingston » Mo 9. Nov 2020, 21:55

So, eine Woche ist rum, und da es keine Beschwerden gab, hau ich mal die nächste Story in die Runde.
Auch hier geht's vordergründig ums Rauchen. Aber in erster Linie ist es eine Homage an den besten Kneipenwirt, den ich je kennengelernt habe. Diese Geschichte ist übrigens nicht erfunden, sondern hat sich genau so zugetragen.

Grüzophren

Wir schreiben Januar 2013. Die Uhr tickt, am 1. Mai ist Schluss mit lustig. Seiner Majestät Willem Zwo geistige Kinder haben zu diesem Stichtag im Landtag von Nordrhein-Westfalen mehrheitlich beschlossen, erwachsenen Menschen das Rauchen wegzuerziehen.
Entsprechend mies die Stimmung in vielen Traditionskneipen – gerne auch als sogenannte „Eckkneipen“ denunziert, in denen dustere Gestalten schweigend Bier und Korn in sich hineinschütten und mit rasselnder Lunge die nach abgestandenen Schweiß miefende und mit Zigarettenqualm gesättigte Luft in sich hineinsaugen.

Auch bei Frank ist die Stimmung im Keller. Er betreibt genau so eine Eckkneipe am westlichen Ende der Bochumer Innenstadt. Jetzt, um 12:00 Uhr, ist er gerade damit beschäftigt, den Laden für den kommenden Abend startklar zu machen, will heißen, Füllstand und Druck der Fässer zu prüfen, den letzten Tabakqualm des Vorabends bei offenen Fenstern zu vertreiben und überhaupt alles, also wirklich alles mal wieder selbst zu erledigen.

Er ist völlig überrascht, als er das Festnetz-Telefon läuten hört. Wer ruft ihn denn jetzt zur Mittagszeit hier an? Hat jemand von den Gästen gestern was liegen lassen? Aber wer sollte von denen jetzt schon wieder fit sein? Fragen über Fragen. Er greift zum Hörer: „Ja, der Frank hier.“
Ein leichtes Zögern auf der anderen Seite, dann vernimmt er die Worte: „Ja, äh, bin ich richtig verbunden mit dem 'Absolut'? Wir wollen gerne reservieren.“
„Der Name lautet nicht 'Absolut', aber kleiner Tip, er fängt auch mit 'A' an.“
„Anyway, dann scheinen wir ja richtig zu sein.“
„Das 'Anyway' befindet sich in Essen, kann ich aber auch empfehlen.“
„Hm, wo sind wir denn da gelandet?“
„Nicht 'Wo-Sind' sondern 'Absinth', das ist der Name meiner netten, kleinen Location.“
„Na, das ist doch goldrichtig, Sie Scherzkeks. Sagen Sie, es stimmt doch, dass man bei Ihnen rauchen darf?“
„Ja klar, solange Papa Staat es erlaubt, husten wir uns hier die Lungen bröckchenweise aus dem Leib.“
„Haha, na is ja perfekt. Wir würden nämlich gerne mit 'ner größeren Runde in gepflegter Gastlichkeit unterkommen. Man sagt ja, ihr hättet im Ablomov …“
„Da verwechseln Sie jetzt aber so richtig was.“
„... 'ne richtig gute Küche. Deshalb wollten wir anfragen, ob Sie nächsten Samstag schon um 14:00 Uhr aufmachen und für 30 Leute was Leckeres zu Essen vorbereiten können.“
„Für 30 Personen, ja sicher, lässt sich machen. Was darf ich Ihnen denn auf die Gaumen legen?“
„In erster Linie Fleisch, saftige, blutige, halbrohe Steaks, wenn's geht.“

Die Details ersparen wir uns. Am Ende ist der Deal klargemacht, und es geht nur noch um ein paar technische Details, wie zum Beispiel folgendes:
„Und Rauchen ist echt kein Problem?“
„Nein, wirklich nicht, dafür stehe ich mit meinem Leben ein.“
„Ok, dann ist die Sache abgemacht.“
Frank ist zufrieden, nur eine Kleinigkeit ist noch zu klären: „Auf wen genau soll ich die Reservierung ausstellen?“
„Das geht auf Bündnis 90 / Die Grünen – Landesvorstand NRW.“

Schweigen in der Telegraphenleitung, kein Laut ist zu hören, draußen auf der Straße verklingt das Singen der Vögel, Autos stehen still, nicht der leiseste Windhauch ist zu spüren.
„Hallo, sind Sie noch dran?“ röhrt es in Franks Telefonhörer. Ganz leise, wie der erste schwache Windhauch vor dem Orkan, flüstert er zurück:
„Ihr wollt rauchen?“
Die andere Seite klingt etwas verunsichert: „Ja, sicher, darum ging's doch die ganze Zeit.“
„Genau darum geht's“, lautet die prompte Antwort mit schneidender Stimme.
„Und gibt es ein Problem damit?“
„Grüner LV, hab ich doch richtig verstanden?“
„Ja, wir tagen diesmal in Bochum, 20 Meter von Ihrer Kneipe entfernt, direkt um die Ecke. Passt doch, oder?“
„Passt wie Arsch auf Eimer“, antwortet Frank, bevor er explodiert:
„Ihr Wichser, ihr verdammten Drecksäcke, ihr wollt bei mir rauchen? In meiner Kneipe?“
„Ja, sicher, haben wir doch alles abgemacht.“
„Abgemacht? Ich hab' mit niemandem abgemacht, dass mir am 1.5. das Geschäft kaputtgemacht wird, nur weil Schluss mit Rauchen ist.“
„Ja, aber noch geht’s doch.“
„Noch, ihr elenden Heuchler, noch! Wer hat denn die Hetzkampagne eingestiehlt, die Knall-Journaille zum heiteren Raucher-Denunzieren mobilisiert und uns Kneipenwirte zu Aussätzigen erklärt, hä?“
„Aber das ist doch nichts Persönliches. Der Schutz der Nichtraucher ...“
„... die sich sowieso nicht hier hin verirren?“ platzt Frank ins Wort. „Die Gesundheitsanbeter, die ihr Heil im gewaltfrei gepressten O-Saft suchen, die Antroposophen, die kleine Kinder zum Tanzen zwingen, Feinstaubflüchtlinge, Kostverächter, Zwangsnormale, Erziehungs-Erzieher, Eso-Strickliseln und Sternengläubige? Die wollt ihr vor dem Qualm in meiner Kneipe schützen, weil sie sonst einmal zu tief Luft holen, tot umfallen und innerhalb von fünf Minuten blubbernd und stinkend verwesen?
Weisste was? Vergiss die Bestellung!“

Nach ein paar Sekunden fragt der Grüne kleinlaut: „Und wenn wir abends noch auf ein Bierchen reinschauen, zur normalen Öffnungszeit?“
Das ist doch wohl die Krönung, Frank holt zum finalen Schlag aus:
„Wenn ich einen von euch Ärschen auch nur in der Nähe rieche, könnt ihr mal sehen, wie viele Sterne es wirklich am Himmel gibt. Ich pack meinen alten Baseballschläger wieder aus, klar? Und Hausverbot gibt’s, und zwar für alle von euch, solange es meinen Laden noch gibt. Capito?“

Frank lässt den Hörer auf die Gabel krachen und gießt sich erstmal einen vierfachen Glen Livet Single Malt ein. Ne, ein echter Sieg war das nicht, aber diese Runde hatte er glasklar durch KO gewonnen. Zeit, sich zurück zu lehnen und in Ruhe eine leckere, selbstgedrehte Schwarzer Krauser ohne Filter zu genießen.
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Re: Non-RGP / Short Stories

Beitragvon Icarium » Fr 13. Nov 2020, 09:24

FrankTheTank? ;)
Gefällt mir sehr gut.

Nebstbei: Wollen wir nicht geschlossen brainwave bitten, dass interne Forum wieder zu öffnen??
Es fehlt einfach enorm. Ich hab die ganzen Threads immer gern durchgelesen - und nen Konflikt ohne internes Forum ist einfach fast nicht existent.
Genau so wenig, wie eine Ally oder Meta, da man nichts wirklich einfach planen kann..

Weiter so mit den guten RPG`s Livingston, die hab ich damals schon gemocht und find sie immer noch gut :)
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Re: Non-RGP / Short Stories

Beitragvon Livingston » Fr 13. Nov 2020, 18:30

Icarium, ich hab mich kürzlich wieder beim Klicken erwischt, da kann ich auch wieder RPGs schreiben.
Fragt sich nur, worüber. Ohne integriertes Forum kriegt man ja nix mit.
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Re: Non-RGP / Short Stories

Beitragvon Livingston » Mo 11. Jan 2021, 02:00

Wechseln wir mal das Thema.

Sprachverwirrungen

Ich brauchte Jahrzehnte, um zu begreifen, dass ich ein Faible für Fremdsprachen besitze; ja überhaupt mit Sprache locker umgehen zu können, realisierte ich erst vollständig, als ich die Schule längst verlassen und ein naturwissenschaftliches Studium aufgenommen hatte. Vorher gab's ein paar prägende Erlebnisse, von denen ich hier erzähle.
Meine Grundschullehrerin lobte mich über den grünen Klee, als sie uns zum Beginn der ersten Klasse fragte, ob wir denn schon wüssten, wie man denn schreiben könne, und ich dann leserlich und fehlerfrei das Wort "Schornsteinfeger" auf die Tafel pinselte. Fortan entwickelte sie die unangenehme Eigenart, mir durch mein einst volles Haupthaar zu wuscheln.
Es ging steil bergauf mit mir, Klassenbester bin ich geworden, eine großartige Karriere bahnte sich an. "Mein Lieblingsschüler" rutschte der Lehrerin mal vor der kompletten Schulklasse raus. Au Mann, war das peinlich.
Stetig bahnte ich mir meinen Weg nach oben, ich konnte nicht klagen, alles ging glatt - bis zur zweiten Klasse, als ich in einer Schneeballschlacht mit der direkt angrenzenden Nachbarschule eine feindliche Lehrerin sauber mit einer Eiskugel erlegte. Meine Klassenlehrerin kommentierte das mit einer Gesichtsentgleisung und den Worten: "Du also auch?"
In mancher Hinsicht erwies sich diese Untat als positiv. Meine Deutsch- (oder hieß das dort noch Sprach-?) Note rutschte von 1 auf eine sozial verträglichere 2. Normalisierung trat ein. Gut so.

Meinem Vater habe ich zu verdanken, dass ich ein besonderes Verhältnis zur französischen Sprache entwickelte. Das war ihm wahrscheinlich gar nicht bewusst, denn er sprach kein Französisch.
Irgendwie hatte Vatta 'nen kleinen Mann im Ohr, der ihm dauernd ein paar Kalauer zuflüsterte. Leider war das Standarreportoire an Kalauern und Witzen nicht sehr umfangreich und irgendwann erreichte ich das Alter, in dem ich meinen Vater korrigieren konnte, wenn er mal eine Pointe mit leichter Klangverschiebung oder einem ausgetauschten Wort kreativ abzufälschen versuchte. Da war ich, glaube ich, etwa fünf oder sechs Jahre alt.
Ein Wort hat sich jedoch in mein Gehöhr eingefräst, dass ich immer nur auf eine Weise von ihm vernahm, und es lautet: "Aberömöh"
Ok, Sie haben's gelesen, Sie haben's gehört, aber nur zur Erinnerung wiederhole ich es noch einmal. Nur um sicher zu gehen, dass wir uns auch alle richtig verstehen. Also, jetzt kommt's noch einmal: "Aberömöh"
Ok, jetzt haben Sie's, nicht wahr?
Dieses komische Ding setzte Vatta zum Beispiel gerne ein, wenn er bei Kaffee und Kuchen in geburtstäglicher Großfamilenrunde Zeit brauchte, um eine Erwiderung auf Tante Margas letzte ruppige Bemerkung über ihren versoffenen und nichtsnutzigen Gatten Willi zu formulieren. "Aberömöh" war nichts weiter als ein unendlich verlängertes "Aber". Taktisch klug eingesetzt verschaffte es meinem Vater oft genug die kleine gedankliche Auszeit, um verbale Munition zu sammeln, und es sorgte oft auch für eine Entspannung bei sich anbahnenden Sippenstreitigkeiten.
Mich aber verwirrte es. Hin und wieder bekam ich mal aus "Tagesschau" und "heute" fremdsprachige Wortfetzen mit, und irgendwann identifizierte ich "Aberömöh" als eindeutig und unwiderleglich französisch. Punkt.

Jahre nach Vattas Tod, klärte mich übrigens meine Mutter auf, dass das Ganze auf einen Tick von Omas schlesischer Nachbarin zurückging, die völlig humorfrei und ohne weitere bösen Absichten immer "Aberömöh" statt "Aber" sagte. Ich nehme an, Vatta verdaute mit der Übernahme des seltsamen Wortes seine zweite Begegnung mit seltsam anmutenden Sprachgebräuchen. Und zwar souveräner als bei seiner ersten, großen Konfrontation mit seltsam anmutenden Lauten innerhalb des hiesigen Sprachraums. Man stelle sich vor:
Mein im nördlichen Ruhrpott groß gewordener Vater besucht seine gleichsam im nördlichen Ruhrpott groß gewordene Angebete, trifft auf seine zukünftigen Schwiegereltern - und versteht kein Wort mehr. Mutter erzählte mir mal, dass dieser Moment sehr entscheidend und in seiner Dramatik nicht zu unterschätzen war, denn Vatta überlegte ernsthaft, ob er nicht alle Brocken hinschmeißen sollte; als nämlich nicht nur Oma und Opa, sondern auch seine damals noch junge Liebe auf einmal sächsisch miteinander redeten.
Mein Vater entschied sich, sächsisch zu lernen. Und auch ich kann mit Fug und Recht von mir behaupten, zweisprachig aufgewachsen zu sein.

"Aberömöh" sollte mir in der Schule noch Vorteile einbringen, als ich nämlich eine Französischlehrerin erhielt, die die Worte aufs Übelste überbetonte und in dem einfachen Satz "Qu'est-ce que c'est?" mehrere quakende "Käähs" unterbrachte. Dann musste ich nur still und leise mein Mantra "Aberömöh" aufsagen und wurde während der gesamten Unterrichtsstunde das Grinsen nicht wieder los.

Englisch kann auch sehr verwirren, vor allem wenn es von Leuten aus Wales gesprochen wird. Ein Austauschschüler aus dieser Ecke Großbrittaniens wollte unbedingt mal coole Kneipen in Essen ausfindig machen, musste aber schnell feststellen, dass er dazu unbedingt der Unterstützung einheimischer Aborigines bedurfte. Essen war, ist und wird immer Bischofsstadt und damit grundsätzlich tot sein. Wir aber wussten, wohin man sich begeben konnte, und so schleppten wir den Kumpel ins damalige "Domino", eine echt coole, aber leider inzwischen dahingeraffte Kneipe in Essen-Holsterhausen, wo es donnerstags (Erd-)"Nüsse für Nüsse" bis zum Abwinken gab - und täglich den superleckeren, immer zu empfehlenden, geradezu unschlagbaren "Gepressten Wahnsinn". Die meisten in unserer Runde tranken Pils oder Guinness, ich aber gab unserem Gast einen ordentlichen "Pressed Madness" aus, begnügte mich selbst jedoch mit einem Guinness. "Den gepressten Wahnsinn kenne ich doch schon längst", lautete meine billige Ausrede.
Zufällig musste ich gerade die Toilette ansteuern, als die Bedienung unsere Bestellung auf dem Tisch postierte. Hinter mir hörte ich noch einen walisischen Fluch - "Bipeioshoite!!!" - und war froh, dass ich der frisch ausgerotzen Ladung aus Wodka, Essig und Tabasco (Verhältnis 1:1:1) entgangen war. Als ich zurück zum Tisch kam, musste ich außerdem feststellen, dass irgendwer mein Guinness ziemlich fix leergesogen hatte.

Was aber bedeutete "Bipeioshoite"? War's ein mythischer Kriegsgott, ein besonders fluchbeladener Leprachaun, eine Todesfee, die in Irland Banshee heißt und irgendwelche gemeinsamen Sprachwurzeln vermuten ließ? Nein, mitnichten, aber nichtsdestotrotz ein Ausspruch mit gewichtiger Bedeutung. Zwar war meine Kommunikation mit dem Austausch-Schüler nachhaltig gestört, aber ein Freund, der english native speaker war, konnte mich aufklären, als ich ihm die vernommenen Laute silbengetreu vorstammelte. Er grinste mich an und meinte: "Oh, der Kumpel aus Wales ist wohl 'n Landei und kommt nicht aus 'ner Großstadt". Er ließ mich ein wenig zappeln und schrieb die Übersetzung für mich auf ein Blatt Papier: "Bipeioshoite(wal.) <-> big pile of shit(engl.)"

Eine hammerharte, sprachliche Verwirrung erwischte mich nicht auf der Ebene der Rechtschreibung, sondern in der Semantik, der Bedeutung, und zwar - auf deutsch gesagt - auf gut deutsch. Genauer: Im Geschichtsunterricht, der so dermaßen deutsch ablief, dass er auf Dauer nervig wurde. Dazu nehme man einen religiös-fanatischen Katholiken, verpasse ihm eine Goebbels-Frisur, stecke ihn in einen maßgeschneiderten Armani-Anzug und erteile ihm die Erlaubnis, in der Oberstufe Geschichte zu lehren und darin auch die Abiprüfung abzunehmen.
Der Typ glänzte dadurch, dass er aus allen möglichen geographischen Bezeichnungen deutsche Versionen zauberte: Aus Lago Maggiore wurde mal eben Langensee, New York wird zu Neu York und Kaliningrad zu sagen bedeutete Verrat an der Nation und eine Halbjahresnote Abzug vom Reichskarmakonto.
"Was gibt's denn da nachzudenken? Wir sagen ja auch Paris statt Pariii, also sagen wir Neu York statt New York!"
Solche Sprüche führten meist zu interessanten Situationen. Untergrundgemurmel machte sich breit: "Wen er wohl mit 'wir' meint?" oder "Oh, Seine Majestät wünschen geziemlich angesprochen zu werden!"
Oft entspann sich dann eine halbe Schulstunde lang eine Metadiskussion, ob, wenn ja, warum nicht und überhaupt, wer zuerst diese Sprachverstümmelungen zustande gebracht hatte, wenn nicht der Führer höchstselbst spätestens 1939 persönlich in die Schulpolitik reingegrätscht und im Unterricht deutsche Ortsnamen für Käffer verordnet hätte, wo auch nur ein Sackhaar eines deutschen Schäferhundes hingeweht wurde.

Wenn das alles gewesen wäre, hätte man sich mit diesem Vollhorst abfinden und seine Sprüche rechts liegen lassen können. Aber einmal schoss er den Vogel so richtig ab. Thomas R. - nennen wir diesen Geschichtslehrer einfach mal so - formulierte an einem wunderschönen Frühjahrsvormittag im obersten Stockwerk meiner Schule in entspanntester Atmosphäre bei offenem Fenster diesen einmaligen, in deutscher Sprache so einfachen Satz, dessen einzelne Bestandteilen für sich alleine fast alltäglich sind, die aber in dieser gruseligen Zusammenstellung einfach nur schockieren: "In KZ's sind nicht nur Juden sondern auch andere Schwerverbrecher vergast worden."
Dann hörten wir alle vom nahe gelegenen Hauptbahnhof her das Pfeifen einer Museums-Dampflok.
Dann verließen wir schweigend den Raum.
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Re: Non-RGP / Short Stories

Beitragvon Livingston » Mi 13. Jan 2021, 20:52

Mal was ganz aktuelles. Hab's mal als Glosse an die WAZ geschickt, aber die haben noch nie was von mir abgedruckt.

Fifteen miles from home

Ich begrüße jeden Schritt, welcher der Covid-Seuche endlich den Garaus macht. Es gibt zwar jede Menge Chaos, und einige Maßnahmen erscheinen mit der heißen Nadel gestrickt, aber sowas liegt in der Natur der Sache. Ob konkrete Maßnahmen greifen, lässt sich manchmal nur mit try and error herausbekommen, und wenn nicht die nächste Bundestagswahl anstünde, könnte man sogar erwiesenermaßen unsinnige Regeln wieder zurücknehmen, oder in preußischer Tradition stehende Strafsanktionen, wie sie in Bayern praktiziert werden, auf ein vernünftiges Maß zurückfahren.

Die 15km-Regel aber ist ein ganz großer Wurf, der ganz sicher Wirkung entfalten wird. Ich will das mal anhand eines einfachen Beispiels erläutern, indem wir uns anschauen, welche Auswirkungen im und um das nordrheinwestfälische Gladbeck herum zu erwarten sind, wo jetzt gerade (13.1.2021) ein Inzidenzwert von 400 durch die Decke geht.

Wer in Gladbeck lebt, darf im Moment die Stadtgrenze nur 15 Kilometer hinter sich lassen, sofern die Person nicht in eine andere Gegend des Kreises Recklinghausen gelangen möchte. Eine Reise ins 30 km entfernte Naherholungsgebiet bei Haltern ist kein Problem, da auch Haltern zum Kreis RE gehört.
Problematischer wird's da schon, wenn das Ziel Essen heißt. Hier ist nach 15 Kilometern Schluss. Zum Glück reicht das, um zumindest in die Essener Innenstadt zu gelangen, die zu ausgedehnten Shoppingtouren, Kneipenbesuchen und Vergnügungen aller Art einlädt. Aber halt, da war doch was. Ach ja, Corona-Schließungen. Andrerseits: Was soll man in Essen, wenn gerade nicht Corona das Regiment führt?
Aber da lockt ja noch das malerische Ruhrtal mit seinen stillen, abgelegenen Waldwanderwegen. Dummerweise ist für Gäste aus Gladbeck spätestens an der Grenze zum Stadteil "Stadtwald" Schluss. Da beginnt es zwar gerade, richtig schön grün zu werden, aber man muss damit rechnen, dass einem auf den Waldwegen Kräfte des Ordnungsamtes auf einem Yak entgegenreiten und nach dem Ausweis fragen. Kleiner Tip für Gladbecker*innen: Sagen Sie, Sie hätten irgendwas mit Biologie studiert und seien beruflich unterwegs; das Überleben der grünweiß-gestreiften Waldameise hänge von den Untersuchen der Gladbecker Organisation für Natur-Gesundheit (GONG) ab, und man müsse jetzt unbedingt weiterforschen.
Je weiter man aber nach Süden vordringt, um so skeptischer ist auch die Einstellung der Ordnungsamtsbediensteten, desto penibler verhalten sie sich bei Kontrollen, und auch die Yaks spüren die Anspannung und werden deutlich nervös. Der Grund dafür liegt in der Tatsache begründet, dass man sich langsam aber stetig den besseren Wohngegenden Essens nähert, was sich spätestens ab dem Stadtteil "Bredeney" angesichts höherer Zäune, dickerer Mauern und zielgenauer Selbstschussanlagen um die Wohnstätten herum bestätigt. (Man sagt hier nicht Wohnung oder Haus, sondern standesgemäß Wohnstätte oder Domizil.) Mit etwas Glück erhascht man noch einen kurzen Blick auf die Fläche des Baldeneysees, aber mehr ist nicht zu erhoffen.

Wer selbst in Bredeney oder Werden lebt, hat schon mehr Glück. Angenommen, Sie möchten sich nach einer anstrengenden Golfpartie noch ein wenig an der freien Natur des Münsterlandes ergötzen, dann können Sie ganz entspannt in ihrem Auto Platz nehmen, nach Norden fahren, und ohne mit der Wimper zu zucken die 14,95 km des Gladbecker Stadtgebietes durchqueren. Sollte demnächst auch das benachbarte Bottrop zum Sperrbezirk erklärt werden, spielt das auch keine Rolle, da ja hier die Regeln eines anderen Kreises gelten und Sie die 15 Freikilometer voll ausnutzen können. Das reicht lang und schmutig, um saubere Gegenden zu erreichen. Unangenehm wäre allenfalls, wenn der SUV schlappmacht. Bleiben Sie dann unbedingt im Fahrzeug sitzen, lassen Sie Klimaanlage und Virenfilter in Betrieb und rufen Sie den ADAC. Die ADAC-Goldcard erlaubt vertragsmäßig ausdrücklich, dass Sie sich nicht mit dem Personal des Pannenservice unterhalten müssen, und Sie haben ein Anrecht darauf, während des Abschleppens im Auto zu verbleiben.
Sollte Ihnen beim Abschleppen nach Verlassen der Todeszone langweilig werden und ihnen der Sinn nach einer Pause stehen, betätigen Sie einfach aggressiv und ausdauernd die Lichthupe (der Hebel links am Lenkrad, aber den kennen Sie sicher schon).

Es gibt kritische Stimmen, die behaupten, dass Gladbecker*innen nicht die gleichen Möglichkeiten hätten wie Menschen aus Essen Bredeney; aber das klingt nach einem künstlichen Argument. Nicht umsonst gibt es im Ruhrpott schon seit mindestens 150 Jahren eine soziale Trennung zwischen Norden und Süden. Nie waren die echten Pottler aus dem Norden in den südlichen Gegenden wohlgelitten. Warum sich darüber gerade jetzt beschweren? Soll den Nördlingen ausgerechnet in diesen heiklen Zeiten gestattet werden, wie Heuschrecken im Süden einzufallen?
Natürlich nicht! Wie es schon sämtliche Gesundheitsexperten - vor allem auch solche aus NRW - sagen: Die 15km-Regel ist ein tragbarer Kompromiss.
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